Ich stehe dazwischen, zwischen den Stühlen. Nehme von Zeit zu Zeit auf dem einen Platz. Lasse den anderen niemals aus dem Auge. Hechte hinüber. Lasse mich fallen. Frage an mich: Warum zwischen den Stühlen? Warum nicht zwischen den Sesseln? Wo bleibt meine Komfortzone? Es gibt sie. Ich trage sie bei mir. Ständig. Zwischen den Stühlen. Ich versuche einen Hocker zu platzieren. Genau in der Mitte. Genau so, dass ich Platz nehmen kann und trotzdem mit jeweils einem ausgestreckten Arm einen Stuhl zu erreichen. So habe ich alles unter Kontrolle. Fokussiert. Konzentriert. Alles im Blick. Bis der Krampf droht. Ich lasse die Arme gleiten. Ich sitze auf meinem Hocker. Auf meinem Hocker zwischen den Stühlen. Sitzen ist besser als stehen. Ausdauernd. Und mein Stehvermögen? Immer auf Knopfdruck abrufbereit. Argumentativ bewaffnet. Egal von welcher Front. Mein Platz in der Mitte ist gerechtfertigt. Er ist legitim. Es ist, wie es ist. Es muss nicht bleiben wie es ist. Ich bin, wer ich bin. Ich bin, wer ich war.
Eine Frage der Kategorie
Eröffnet sich immer dann eine neue Kategorie, wenn ein Typus nicht in die bereits existierenden Kategorien passt? Kann ich deutsch sein, praktizierende Muslimin und genau das optisch kenntlich machen? Meine Antwort dafür habe ich schon vor einigen Jahren gefunden. Sie ist ein lautes, dominierendes und selbstsicheres JA. Ein JA, das zwischen den Stühlen steht. In einer Kategorie, die neu erschaffen werden musste. Eine Kategorie, die sich füllt, in der ich nicht [mehr] alleine bin.
Die Stühle
Ich stehe zwischen den Stühlen. Zwischen Heimat und Kultur und zwischen Religion und Lebensweise. Auf meinem Zeitstrahl des Lebens beginnen alle vier Punkte gleichzeitig. Heimat und Kultur bestehen nach wie vor und fließen stetig weiter. Religion und Lebensweise haben im Laufe der Zeit die Farbe geändert. Haben sich neu orientiert und anders ausgerichtet. Es sind zwei Welten entstanden. Jede von ihnen nimmt auf ihrem Stuhl Platz und beäugt kritisch den anderen. Mein Hocker in der Mitte. Die Blicke treffen auch mich. Von beiden Seiten. Erst mich, dann das, was dahinter kommt. Ich bin Sinnbild für die andere Seite. Sie wissen, ich gehöre ein Stück zum Gegenüber. Erheben trotzdem Ansprüche. Meine ausgestreckten Arme versuchen beide Seiten zu erreichen. Sie halten mich fest. Sie zerren an mir. Der Hocker gerät ins Wanken. Ich reiße mich los. Stehe in der Mitte. Zwischen den Stühlen. Standhaft.
Der Hocker
Ob sitzend oder stehend. Ob mit oder ohne Hocker. Ich gehöre zu den Stühlen und dennoch wiederum nicht. Ein Teil von mir, meiner Existenz, meiner Lebensgrundlage findet auf jedem Stuhl Platz. Ich kann mich nicht teilen und dennoch bin ich geteilt. Ich bin ein Novum. In der Mitte auf einem Hocker. Versuche mich zu etablieren und standhaft zu werden. Aus dem Schatten der Stühle hervorzutreten und eine Lehne zu bekommen, in die ich mich fallen lassen kann. Wo ich angekommen und akzeptiert bin. Ich bin dabei die Lehne zu bauen. Das Holz habe ich schon. Die Schrauben noch nicht. Ich bin kein Statiker. Ich bin ein Hocker. Noch. Kann ich ein Stuhl werden? Oder gar ein Sessel?
Das rote [Kopf-]Tuch in der Debatte
Es geht um Akzeptanz und Toleranz auf beiden Seiten. Das rote Tuch in der Debatte befindet sich dabei auf meinem Kopf. Für die eine Seite zu religiös, für die andere Seite nicht religiös genug. Während der eine Stuhl das Tuch kritisch auf seine Existenzgrundlage hin prüft, tut die andere es aufgrund meiner Interpretationsgrundlage. Die eine fragt sich, ob das Tuch gerechtfertigt ist, die andere weiß, dass es anders gerechtfertigter wäre. Beide Seiten kennen meine Argumente nicht. Meine Sicht der Dinge spielt dabei nur geringfügig eine Rolle. Ein Problem. Ein morsches Bein meines Hockers? Doch es gibt kein Problem. Es gibt nur verschiedene Ansichten. Ich säge das Bein ab. Auf drei Beinen steht ein Hocker sowieso stabiler.
Gedanken entstehen, Gedanken bleiben, Gedanken verschwinden. So ist das eben. Manchmal muss man sie einfach festhalten, um sich daran zu erinnern, wie der eigene Standpunkt einmal ausgesehen hat. Mehr Gedanken zum Thema Kopftuch findest Du hier.
Erzählt doch mal, wie Ihr das so macht. Zwischen den Kulturen, den Religionen, den Ansichten? Zwischen den vielen Menschen mit vielen verschiedenen Meinungen…
Habt Ihr Euren Platz gefunden oder seid Ihr ebenso auf der Suche?
Ich wünsche Euch einen gesegneten Freitag!
Viele liebe Grüße und Selam
Eure Vanessa
Schöner Text! Mittlerweile arbeite ich daran, immer auf das Einende zu schauen. Denn ich glaube, dass jeder Mensch mindestens zeitweise in seinem Leben zwischen den Stühlen sitzt. In der Pubertät, in der Familie, wenn die Eltern sich trennen, als Mutter(!) . Und ich glaube, durch die bewusste Konversion und den Umstand, nicht in eine muslimische Familie geboren worden zu sein, vetschafft uns einen unglaublichen Vorteil. Nicht nur, dass wir beide Welten kennen, fühlen und sind. Nein, wir sind uns dessen sehr bewusst. Schließlich tut die Umwelt permanent genau das: sie macht uns aufmerksam. Es ist eine ungemeine Stärke, und wie jede, kann sie zur Schwäche werden. Aber ich glaube, das liegt an uns, wie wir sie fühlen und was wir daraus machen.
Vielen Dank liebe Nour,
Du hast so Recht. Ich habs noch nie als Vorteil betrachtet, was ich schleunigst ändern sollte. Es würde vieles einfacher machen. Danke für Deine Worte!
Liebe Grüße & Salam
Vanessa
Assalamu Alaykum liebe Vanessa –
ein interessantes Sinnbild, das du hier beschreibst!
Es erinnert mich an die Worte von Dr. Timothy Winter – aka Sh. Abdal Hakim Murad – der, als er gefragt wurde, wie er sich als ziemlich typischer oldschool Brite nach der Konversion zum Islam fuehlte. Und er antwortete sinngemäss (ich will ihn jetzt nicht einfach ungenau zitieren), es sei gewesen, als ob er vorher immer gestanden haette und ploetzlich in einem bequemen Sessel platz genommen haette. SubhanAllah. Falls du noch nicht von ihm gehoert haben solltest koennte ich mir vorstellen, dass du ihn auch als sehr interessant empfinden wuerdest….
Wassalam
Ilhaam
Aleikum Selam liebe Ilhaam,
da scheinen Sitzmöbel einen gewissen Einfluss auf uns Konvertierte zu haben. 🙂 Ich kannte ihn tatsächlich noch nicht, werde das aber umgehend nachholen. Danke für den Tipp!
Liebe Grüße & Selam
Vanessa